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Dreckspritzer und Glitzerstaub

Jessica Freiburghaus (32) lebte von 2021 bis 2023 mit ihrem Ehemann Etienne (32) und ihren Kindern Timéa Hosanna (4) und Yann Adriel (2) im Rahmen des zweijährigen Stride-Programms in Costa Rica, der «Schweiz Zentralamerikas». Dort wurde im April die Fünfte im Bunde, Joana Michèle, geboren. Aktuell ist sie Teil des Büroteams in der Schweiz mit der Aufgabe «Membercare Kurzzeiter». In ihrer Kolumne nimmt uns Jessica mit hinein in ihre Geschichte(n) mit Gott in dem Land, wo Gott sie und ihre Familie zurzeit haben will. Warum sie dafür den Titel «Dreckspritzer und Glitzerstaub» wählt? Hier ihre Erklärung: «Immer wieder erlebe ich, wie Gott durch alltägliche Situationen zu mir redet. Daran möchte ich andere teilhaben lassen. Mein Alltag in Lateinamerika als Mutter von drei Kleinkindern ist geprägt von zahlreichen Herausforderungen und bekommt immer mal wieder eine Ladung Dreckspritzer ab. Doch genauso erfahre ich Lichtblicke, Aha-Erlebnisse, Begegnungen mit Gott inmitten des ganzen Trubels. Dieser wunderschöne Glitzerstaub bleibt an den Dreckspritzern kleben und lässt dadurch eine Situation plötzlich in einem neuen Licht erstrahlen.»

Hier Ihre Beiträge:

 

HOFFNUNG

Möglichst unauffällig begutachte ich den düsteren Raum. Neben der Kochnische ein wackeliger Tisch, zwei Stühle. Dann ein Bett. Wie viele Personen sich dieses wohl teilen müssen? Ein Vorhang verdeckt den Blick auf die Toilette. Eine nackte Glühbirne erhellt den Raum, ein Fenster suche ich vergeblich. Privatsphäre scheint ein Fremdwort zu sein: die Nachbarn lachen, lieben und streiten direkt auf der anderen Seite der Wellblechwand.

Der Anblick, der sich mir bietet, ist ein krasser Gegensatz zum Erscheinungsbild der Brüder, die meinen Englischunterricht besuchen. Immer tadellos gekleidet, saubere Schuhe, perfekt frisiert und in eine Duftwolke von Aftershave gehüllt, die meine Sinne zu benebeln droht ... Und hier also haust ihre sieben­köpfige Familie!

Doch nebst der offensichtlichen materiellen Not ist da noch etwas anderes zu spüren: Hoffnung. Hoffnung, dass der Tag nicht mit knurrendem Magen beendet wird. Hoffnung, dass die Jungs ihr Studium abschliessen, die Mädels weise Entscheidungen treffen, das Baby die nötigen Medikamente erhält, der Vater den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt schafft.

Solche Situationen habe ich während unserem Einsatz in Costa Rica öfters erlebt. Und jedes Mal berührte sie mich, diese Hoffnung, die ich inmitten der Not spüren konnte. Eine Hoffnung, die weder durch ein Stück Brot noch durch eine Münze zum Leben erweckt wird. Zu schnell ist die Mahlzeit verspeist, das Geld verspielt. Nein, es ist die Hoffnung auf einen Gott, der auch heute noch Wunder tut. Ein Gott, der sich um seine Menschen kümmert. Der zwar nicht jeden Wunsch erfüllt, aber dennoch (oder gerade deshalb?) gut ist. Der aus krummen Linien Kunstwerke entstehen lässt. Aus einem Scherbenhaufen kostbare Gefässe kreiert.

Dieser Gott ist es, der uns dazu bewegt hatte, in diesem von Armut und Kriminalität gezeichneten Quartier Hoffnung zu versprühen. Dies auf eigene Faust zu tun, wäre höchstens waghalsig, nicht aber nachhaltig gewesen. Doch wir arbeiteten mit dem lokalen Pastor und seinem Team zusammen. Die Vision dieser Kirchgemeinde begeistert uns. Die Hilfesuchenden werden weder mit leeren Bibelworten abgespeist, noch mit materiellen Gütern ruhiggestellt. Denn ganzheitliche Unterstützung bedeutet mehr: Diesen Menschen wird eine Zukunftsperspektive geboten. Durch Bibelverse. Durch Lebensmittelpakete. Durch Bildung. Durch aufrichtiges Interesse und echtes Miteinander. Wir durften Teil davon sein. Jetzt sind wir zurück in der Schweiz. Doch unsere Arbeit im Quartier geht weiter. Dank der interkulturellen Partnerschaft.

 

Besuche wurden immer freudig erwartet.

 


 

PLÖTZLICH IM ZWEITEN TEIL DES LEITSATZES

In der letzten Ausgabe der Latin Info richteten wir unseren Blick auf «das grosse Ganze». Zahlreiche Zahnrädchen sind miteinander verbunden, damit das Gesamtwerk zum Laufen gebracht wird. In diesem «grossen Ganzen» hat jeder seine Funktion, seinen Aufgabenbereich, seine ganz persönliche Mission. Der eigene Wirkungsradius ist zwar eingeschränkt, kann aber dennoch grosse Kreise ziehen.

«Wir ermöglichen sinnstiftende, interkulturelle Einsätze mit einer professionellen Membercare-Begleitung» so das Credo von Latin Link. Bis jetzt fand ich mich hauptsächlich im ersten Teil davon wieder. Meine Einsätze mit Latin Link in Nicaragua und Costa Rica waren zweifelsfrei sinnstiftend. Interkulturell sowieso. Selten in meinem Leben sah ich so viel Sinn darin, morgens aufzustehen. Auch wenn mir vieles wie ein Tropfen auf einem heissen Stein erschien, so konnte ich ihn doch sehen, diesen Tropfen, und seine Auswirkungen direkt miterleben. Die warme Mahlzeit für den heimatlosen Mann, der die Nacht irgendwo draussen verbringen musste. Die Sprachübungen mit dem rastlosen Jungen, der kaum verständliche Laute von sich gab. Die wertschätzende Haltung gegenüber dem schüchternen Mädchen, das zuhause nur Ablehnung erhielt. Das tiefschürfen­de Gespräch mit der eingeknickten Frau, die in ihrem Leben hauptsächlich Scherben sah. Trotz aller Herausforderungen: Ich liebte mein interkulturelles und sinnstiftendes Leben in Zentralamerika.

Und nun, ein halbes Jahr nach unserer Rückkehr in die Schweiz, befinde ich mich plötzlich im zweiten Teil dieses Leitsatzes: die Membercare. In meinem Fall ist dies die Begleitung der Kurzzeiterinnen und Kurzzeitern in Lateinamerika. Während meinen Einsätzen habe ich selber erlebt, wie wertvoll die Begleitung des Schweizer Büros für den Dienst in Lateinamerika ist. Hochs und Tiefs teilen, den Einsatz mit jemand Externem in der Muttersprache reflektieren, neue Impulse erhal­ten, ermutigt und herausgefordert werden. Diese Membercare-Momente wurden für mich zu einem wichtigen Anker in stürmischen Zeiten.

Nun also der Seitenwechsel für mich. Nicht mehr das aufregende Leben an der Front, sondern ein stilles Wirken im Hintergrund. Ich bin am «Ölen und Schräubeln», damit einige Zahnräder geschmeidig weiterlaufen. Ich sehe es als Privileg, dadurch weiterhin Teil «des grossen Ganzen» zu sein. Mein Wirkungsradius in Lateinamerika ist zwar nicht mehr direkt sichtbar, dennoch wird er Kreise ziehen. Somit darf auch ich meinen Teil dazu beitragen, dass die Einsätze mit Latin Link weiterhin nicht nur interkulturell, sondern eben auch sinnstiftend sind. 

2010 befand ich mich noch im ersten Teil des Leitsatzes (Bild link, damals in Nicaragua) und 2023 im zweiten Teil (Bild rechts, mit Stridern, die ich begleiten darf).

 


 

TEIL DES GROSSEN GANZEN – SCHON SCHÖN, ABER AUCH HERAUSFORDERND ...

Meine fünfjährige Tochter erklärt die costa-ricanische Ampel: «Bei Grün darf man fahren, bei Rot sollte man halten, aber manchmal fährt man, und bei Gelb muss man ganz schnell fahren.»

Nach zwei Jahren in Zentralamerika muss ich mich erst wieder daran gewöhnen, dass die Verkehrsregeln in der Schweiz verbindlich sind. Die Zeit im Ausland ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Damit meine ich nicht in erster Linie mein Verkehrsverhalten. Die ständigen Veränderungen, die nervenzehrenden Reisen, der Alltag, der nie wirklich Alltag geworden ist, die Ungewissheit der Zukunft, das Spannungsfeld zwischen Heimat und sich fremd fühlen, die Erwartungen verschiedenster Art – all das ist mir an die Substanz gegangen.

Auch wenn ich auf unzählige kostbare Momente zurückblicken kann, gibt es sie auch, die Momente des Zweifelns. Allein im stillen Kämmerchen, da, wo mich niemand hört, getraue ich mich dann zu fragen: Hat sich das eigentlich gelohnt? All dieser Aufwand? All die Spenden, die es gebraucht hat, um unseren Einsatz zu finanzieren? Wie entlastend, dass Gott nicht so rechnet! Während ich nur einzelne Teile eines grossen Puzzles sehe, hat Gott das Gesamtwerk vor Augen. Ich sehe, wie harzig das Buchstabenentziffern mit Pedro* vorwärts geht. Gott wusste bereits, wie wichtig das Lesen für den Neunjährigen eines Tages sein wird. Ich sehe meine Herausforderungen. Gott wusste bereits, dass dadurch meine Freundin ermutigt wird, in ihren Kämpfen ebenfalls nicht aufzugeben. Ich sehe, dass an jenem regnerischen Nachmittag nur wenige Kinder im Programm erscheinen. Gott wusste bereits, dass Sofía und Elena den dafür umso persönlicheren Austausch nötig hatten.

Dieser Blick auf das grosse Ganze hilft mir. Dabei bin auch ich nur ein Teil davon. Zwar hatte ich das Privileg, zuvorderst an der Front zu stehen und direkt die positiven Auswirkungen meines Dienstes in Costa Rica zu erleben (zugegeben, es fühlte sich nicht immer wie ein Privileg an … ah und ja, die positiven Auswirkungen waren auch nicht immer spürbar …), doch alleine hätte ich es nicht gepackt. Wäre ich verzweifelt. Hätte ich aufgegeben. Doch immer wieder wurde ich genau im richtigen Moment ermutigt. Wertschätzende Grüsse aus der Schweiz. Unerwartete Spenden. Ein Stück Schweizer Schokolade. Ein unverhoffter Besuch. Aufrichtiges Interesse. Treue Gebete. Was wie eine fromme Floskel klingt, ist wirklich so: Nur dank der Unterstützung zahlreicher Menschen, war mein Einsatz in Costa Rica möglich. Somit ist es eigentlich falsch, von «meinem» Einsatz zu reden. Es war und ist «unser» Einsatz.

* alle Namen geändert

 

Auch wer pflanzt, braucht den Blick fürs grosse Ganze ...

 


 

WENN DER FREMDE EINEN NAMEN ERHÄLT

Im Ausland zu leben, hat Nachteile: man vermisst seine Familie. Besonders an Feiertagen. Im Ausland zu leben, hat aber auch Vorteile: Man muss sich nicht nach der Verwandtschaft richten. Gerade auch an Feiertagen. Statt durch die gesamte Schweiz von Weihnachtsbaum zu Weihnachtsbraten hetzen, haben wir uns letztes Jahr bewusst überlegt, wie wir Jesu Geburt feiern möchten. Ich weiss, Weihnachten ist bereits Schnee von gestern, Ostern wäre ein aktuelleres Thema. Doch mir ist neu bewusst geworden, dass eigentlich jeder Tag weihnachtlich sein könnte. Oder gar sollte?

So oder so: Wir wollten als Familie Obdachlose mit Kaffee und Zopfbrötchen beschenken. Nun ja, mit drei Kindern im Schlepptau dauert alles ein bisschen länger, und so wurde das Frühstück kurzerhand zu einem Zmittag umfunktioniert. Trotz der Anonymität der Hauptstadt kostete es mich anfänglich Mut, auf wildfremde Menschen zuzugehen. Ehrlich gesagt war ich froh um unsere drei Knirpse. Vorurteilslos steuerten sie mit einem Keks in der Hand und einem Lächeln im Gesicht auf Menschen zu, um die normalerweise ein Bogen gemacht wird.

Plötzlich waren sie nicht mehr irgendwelche Fremde, die nichts mit mir zu tun haben. Der Unbekannte wurde zu meinem Nächsten, dessen Name ich kennenlernte. Dessen Herz ich spüren durfte. Der ein Stück Leben mit mir teilte. Ein Leben, das eine Geschichte schreibt, die er sich selber wohl nicht ausgewählt hätte. Noch heute überkommt mich Gänsehaut, wenn ich an diese Begegnungen zurückdenke. Ich, die etwas von Gottes Liebe verschenken wollte, wurde selber zur Beschenkten.

Zugegeben, nicht immer verlaufen diese Begegnungen so glitzerig. Manchmal habe ich keine Lust darauf, mich auf meinen Nächsten einzulassen. Denn es kann ganz schön unbequem sein, daran erinnert zu werden, dass ich auf der Sonnenseite des Lebens stehe. Dass ich zu den Privilegierten gehöre. Dass ich anderen gegenüber eine Verantwortung habe.

Sich auf meinen Nächsten einzulassen bedeutet für mich, in meinem Alltag «störbar» zu sein. Nicht nur von meinem Zeitplan und meinen «To-do‘s» diktiert zu werden. Mit offenen Augen durch das Leben gehen. Mal etwas weniger zu tun, um dafür etwas mehr zu sein. Das kann durchaus auch mit sich bringen, dass ich hie und da Erwartungen enttäusche. Gar nicht so einfach für eine Schweizerin…

Unsere Reise in die Schweiz liegt in greifbarer Nähe. Ich bin gespannt darauf, wer dort wohl mein Nächster und meine Nächste sein werden. Vielleicht sind sie nicht so leicht erkennbar, wie die Obdachlosen von San José. Doch ich weiss, dass sie da sein werden.

Sich auf den Nächsten einzulassen bedeutet oft, im Alltag «störbar» zu sein.

 


 

BEDEUTUNG ...

Kurlige Kürbisgewächse, tropische Früchte und duftender Koriander buhlen am Wochenmarkt um meine Aufmerksamkeit. Auch die Händler werben um mich. Oder besser gesagt, um mein Portemonnaie: «Was darfs sein, mein Herz?»Herz, Liebste, Schönheit bis hin zu Königin… Anfänglich irritiert, messe ich diesen Kosenamen heute keinerlei Bedeutung mehr zu. Mit ein, zwei oder gar drei Kindern im Schlepptau ist mein persönlicher Marktwert sowieso nicht sonderlich gross. Auf dem Heimweg spricht mich ein Herr an. Einen Schrecken habe er gekriegt, als er meine Tochter so ganz alleine auf dem Markt sah. Wie bitte? Ich hatte doch extra darauf geachtet, sie möglichst nahe bei mir zu halten. Zumindest nach meinem Empfinden…

Aufrichtige Bemühungen meinerseits. Vielsagende Blicke und besorgte Bemerkungen andererseits. Die Angst vor einer Kindsentführung scheint allgegenwärtig zu sein. Der Nachwuchs wird oft bis ins Teenageralter auf Schritt und Tritt begleitet. Unnötige Hysterie oder weise Umsicht? Bis heute habe ich keine Antwort auf diese Frage gefunden. Fest steht: gewisse Vorgehensweisen haben hier eine andere Bedeutung als in der Schweiz.

Ein innerer Konflikt: Wie weit passe ich mich an, um nicht ungewollt ein falsches Bild zu vermitteln – in diesem Fall, das einer verantwortungslosen Mutter? Wo sind meine persönlichen Grenzen? Welche Werte sind für mich nicht verhandelbar?

Bei unserer Arbeit in einem Armenviertel fordert mich dies immer wieder heraus. Über gewisse Themen, die mir viel bedeuten, macht sich hier kaum jemand Gedanken. Eistee statt Milch im Babyschoppen? Kein Problem. An Geburtstagsfesten wird meinen Kindern Kaffee angeboten. Und bereits Säuglinge werden vor den Bildschirm gesetzt – ein verzweifelter Versuch, sie zufrieden zu stellen. Auch wenn ich nach aussen hin ruhig bleibe: in mir tobt ein Sturm der Gefühle. Dass ich die Welt nicht retten kann, ist mir bewusst. Dass dies auch für die Kinder in meinem Um­feld gilt, schmerzt.

Der Grat zwischen Empathie und Verurteilung ist schmal. Ich kenne zahlreiche Alternativen zum unkontrollierten Bildschirmkonsum. Doch welche davon stehen einer siebenköpfigen Familie zur Verfügung, deren fensterlose Blechhütte 30m2 misst, in einem Quartier, in dem Schüsse zum Alltag gehören? In gewisser Hinsicht bin ich barmherziger geworden.

Gleichzeitig nehme ich die Chance wahr, meine Werte im Alltag mit meinen Kindern (vor) zu leben. Damit ecke ich zwar hin und wieder an, doch es ergeben sich wertvolle Gespräche daraus. Und dies bedeutet mir viel.

 

Leben in einer fensterlosten Blechhütte von 30 m2

 


 

LATIN LINK BEDEUTET FÜR MICH: VIELFALT IN DER EINHEIT

Da ist zuerst die Einheit. Unser Glaube an Jesus Christus. Unser Vertrauen in den himmlischen Vater. Unser Bestreben danach, vom Heiligen Geist geführt und verändert zu werden. Und natürlich: unser Herzschlag für Lateinamerika. Diese Einheit beflügelt mich, begeistert mich, gibt mir Halt. Dann ist da die Vielfalt. Singles und Verheiratete, Kinder und Grauhaarige, Europäer und Lateinamerikaner. Unterschiedliche theologische Hintergründe. Eine Diversität in der Art, wie wir Glauben und Berufung leben. Kein vorgekochter Einheitsbrei, sondern eine spannende Vielfalt an Ideen, Ansichten, Kreativität und Leidenschaften. Diese Vielfalt ist manchmal unbequem, denn ich muss mich mit meinen Überzeugungen auseinandersetzen. Diese Vielfalt ist aber auch wertvoll, denn sie erweitert meinen Horizont und ergänzt mich. Und dies ermöglicht letztendlich wieder Einheit.

 


 

NICARAGUA NICARAGUITA – LEBENSVERÄNDERNDER EINSATZ

Lebensverändernde Einsätze. Zwei Wörter, die bei mir ein Meer von Emotionen auslösen und mich zurück ins Jahr 2009 katapultieren. Die Erinnerungen an die 15 Monate in Nicaragua sind so lebendig, als ob mein damaliger Stride-Einsatz mit Latin Link erst wenige Tage zurückliegen würde. 20-jährig, Single, unbekümmert (oder eher naiv?) und voller Tatendrang. Meine Spanischkenntnisse begrenzen sich auf «hola, gracias, adios» und von Nicaragua weiss ich nicht viel mehr, als dass es nicht in Afrika liegt (was ich damals immer wieder gefragt wurde...).

An einem Donnerstag Ende September lande ich im Land der tausend Vulkane. Am Flughafen erwarten mich die tropische Hitze, der Geruch von frischem Regen, die schrillen Trillerpfeifen der Polizisten und andauernde Hupgeräusche. Meine Anfangszeit in Nicaragua ist geprägt von zahlreichen Eindrücken, die auf mich einströmen und mir zeigen: Ich bin eine Fremde und gehöre nicht dazu. Ich fühle mich wie ein hilfloser Vogel, der aus seinem Nest gestossen wird, um seine ersten Flugversuche zu machen. Nicaragua ist so ganz anders als alles, das ich bisher kennengelernt habe. Und doch ist da etwas, das mich vom ersten Moment an fasziniert und mein Herz berührt.

Tage, Wochen und Monate vergehen. Was mich anfänglich überrascht, wird zur Normalität. Nebst der Landessprache lerne ich, meine Wäsche von Hand zu waschen, zweimal täglich Reis mit Bohnen zu essen und das Plumpsklo mit Kakerlaken zu teilen. Auch, dass ich meine Schuhe nicht in der Öffentlichkeit ausziehen soll und dass die kalte Dusche zwingend am Morgen zu erfolgen hat. Vor allem aber, dass Zeit ein dehnbarer Begriff ist, dass «anders» nicht «falsch» bedeutet und dass Fremde nicht nur zu Freunden sondern sogar zu Familie werden können.

Dezember 2010. Erneut befinde ich mich am Flughafen von Managua. Die tropische Hitze, der Geruch vom frischen Regen, die Trillerpfeifen...alles scheint gleich zu sein, wie bei meiner Ankunft vor 15 Monaten. Alles? Nein, etwas hat sich verändert. Und dies bin ich. Zwar ist meine Haut noch immer weiss und meine Augen blau. Doch was niemand sieht: mein Herz ist nun «moreno» (Hautfarbe der Nicaragua­ner). Denn während meiner Zeit in Nicaragua lernte ich nicht nur, mit Stolz die Nationalhymne singen, sondern auch Land und Leute lieben. Dass mein Einsatz für viele zum Segen wurde, ist für mich ein Geschenk Gottes. Noch mehr aber wurde mein eigenes Leben beschenkt und verändert. Meine Beziehung zu Jesus tiefer, mein Herz weicher, mein Horizont breiter.

Und nun, ein Jahrzehnt später, befinde ich mich in Costa Rica, dem südlichen Nachbarsland von Nicaragua. Die Umstände könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch ich spüre, dass auch dieser Einsatz lebensverändernd ist.

Jessicas Kolumne

Nicaragua wurde zu meiner zweiten Heimat (Bild von 2010) 

 


 

HEIMAT

 

Die Zeit vor unserer Ausreise war sehr intensiv, unerwartete Schicksalsschläge brachten mich ins Schleudern. Nichtsdestotrotz behielten wir die Gewissheit, dass Gott unsere Familie in Costa Rica wollte. Für viele eine Traumvorstellung: eindrückliche Vulkane, tropische Vegetation, erholsame Sandstrände. Für uns: ein Überlebenskampf, weit weg von dieser Idylle. «Wir», das sind: eine hochschwangere Frau, ihr Fels in der Brandung (auch Ehemann genannt) und ihre zwei ach so herzigen (oder, je nach Tagesverfassung, ach so nerventötenden…) Kinder. Einen Monat und eine Hausgeburt später sind wir zu fünft in Tres Ríos, einer Kleinstadt nahe der Hauptstadt San José.

Nach der ersten intensiven Eingewöhnungszeit (die noch immer nicht abgeschlossen ist…) fahren wir für eine Woche Auszeit auf die Halbinsel Nicoya. Mitte Woche verkündige ich meiner Tochter, dass wir noch zweimal in diesem mit haarigen Spinnen, leuchtenden Glühwürmchen und weiteren undefinierbaren Insekten bevölkerten Bungalow übernachten und anschliessend heimfahren werden. Timéa schaut mich mit grossen Augen an und fragt ernsthaft: «Wo ist ‹Daheim›?» Ich stutze. Runzle die Stirn. Überlege. Ja, wo ist denn unser Zuhause, unser Daheim, kurz, unsere Heimat? Das unscheinbare Dorf in der Westschweiz, wo unsere Familie entstand? Bei den Grosseltern, wo zahlreiche Kindheitserinnerungen ruhen und wir auch in Zukunft willkommen sein werden? In Tres Ríos, wo wir zwar die Nachbarn kennen, uns dennoch oft als Exoten fühlen? Anscheinend gibt es für meine Tochter kein eindeutiges «Daheim» mehr. Und so wird mir zum ersten Mal bewusst, dass ich Mutter von drei sogenannten «TCK» (third culture kids) bin, die in verschiedenen Welten und Kulturen leben. Die gleichzeitig überall und doch nirgends zu Hause sind.

Mein Sohn wackelt an mir vorbei. Mein Blick fällt auf seinen Body mit der Aufschrift «Daheim ist, wo Mama und Papa sind». Dieses Kleidungsstück hatte ich ganz bewusst in den Reisekoffer gelegt. Es erinnert mich daran, dass mein Mann und ich dafür verantwortlich sind, unseren Kindern ein Stück Heimatgefühl zu vermitteln.

Und wie steht es um meine eigene Heimat? Darüber war ich mir, aus diversen Gründen, noch nie so ganz im Klaren. Folgender Bibelvers ist mir in der Vergangenheit wichtig geworden und gibt mir auch in diesem Moment Halt: «Wir dagegen haben unsere Heimat im Himmel. Von dort erwarten wir auch Jesus Christus, unseren Herrn und Retter.» (Philipper 3,20). Wie tröstlich zu wissen, dass ich und meine Familie eine Heimat im Himmel haben. Dass diese Sehnsucht und diese Ruhelosigkeit in mir eines Tages gestillt werden. Dann, wenn ich bei Jesus sein werde, in meiner einzig echten Heimat.

 

Heimat ist für jeden etwas anderes. Wo ist unsere Heimat?

 

Erlebt

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